Ich denke, also bin ich
von Simon Salzl aka TwinYawgmoth
Teil 1 - Tönerne Taufe
Kapitel 67: Leben
Wir betreten die Kathedrale.
Holzbänke, zwischen Säulen aufgestellt, böten ein friedliches Bild stiller Würde, wäre da nicht die gelegentliche Leiche zwischen, auf ihnen, ...
oder beides zugleich, ...
oder keine grotesken Wandschmierereien aus getrocknetem Blut, ...
oder keine Geister, die aus Seitentüren schweben, ...
Vielleicht sollten wir ...
Äh, ja.
Ich stelle mich zwischen fliegende Fledermausformen und den Meister, und warte.
In der Tat, kurz darauf erscheinen orange Flämmchen über den Köpfen der Gegner. Ihre Halbdurchsichtigkeit trübt sich noch mehr, und gleich darauf stoppen hintere perplex ihre Bewegung zum Meister hin, nachdem meine Klauen den ersten von ihnen ganz wörtlich in der Luft zerrissen haben.
Dann sind die Skelette bei ihnen, das Folgende ist im Ausgang so sicher, wie es das Amen in dieser Kathedrale ... war.
Der Meister ist konstant am Lächeln. Kaschya rügt ihn wegen seiner Überheblichkeit (meinen Segen hat sie), aber er winkt ab.
»Du siehst, mir hat Niemand etwas entgegenzusetzen.«
Ich schüttle nur den Kopf über diese Vermessenheit.
Im hinteren Bereich der Kathedrale steht ein großer Altar, geschändet, zerbrochen, blutüberströmt.
»Ekelhaft. Scheußlich. Wie sollen wir die Entweihung dieses Ortes bloß rückgängig machen, wenn wir erst einmal unser Kloster erneut beziehen können?«
Der Meister seufzt auf Kaschyas Ausbruch.
»Das Böse hinterlässt seine Spuren überall, wie Fäulnis dringt es in den Kern des Seins;
die Quelle zu vernichten ist nur eins, die Auswirkungen ein anderere Fall.«
Kaschya blickt ihn erstaunt an. Ich auch.
»Das war schön! Ich hätte nicht gedacht, dass in dir eine poetische Ader steckt.«
Der Meister lächelt bitter.
»Ach, diese Zerstörung hier stimmt mich nur so melancholisch. Wer weiß, was sonst noch in mir steckt, wenn es die richtige Laune nicht herauslockt?«
Das trifft allerdings einen Nerv. Der Meister hat mir seine Vergangenheit offenbart, als er depressiv war. Er dichtet aus Traurigkeit. Warum nur ist er so ein Idiot, wenn er glücklich ist?
Das Leben ist eins der Leiden, und nur Schmerz gebiert das Schöne.
Jetzt fang du nicht auch noch an! Das Leben ist schön, aber das liegt nicht am Leid. Leid macht das Leben kaputt, aber die Freude am Leben bezwingt das Leid.
Und welche Freude hast du in deinem Leben? Hast du ein Leben?
Das war ... unter der Gürtellinie.
Ha, manche Dinge müssen erkannt werden, auch, wenn sie noch so schmerzhaft sind. Wenn dir erst bewusst ist, dass deine Existenz nur durch den Willen des Meisters gegeben ist, erkennst du auch bald, dass die Erfüllung dieses Willens die einzige Befriedigung in deinem Leben ist.
Was ist los mit dir? Hast du irgendein Problem oder so?
Nein, kein Problem. Dich stört es doch auch nicht, dass Jeder dich wie ein Möbelstück behandelt, dass du unter der Fuchtel eines willkürlich agierenden Meisters stehst, und dieser dich konstant in Kämpfe schickt, die dich über kurz oder lang töten werden, wobei ihm das egal ist?
Natürlich stört mich das. Aber das ist doch kein Grund, depressiv zu werden ...
Depressiv bin ich nicht. Ich bin Realist. Unsere Existenz ist ohne Freude. Das ist eine Tatsache.
Das Leben kann nicht freudlos sein. Im Tod gibt es keine Freude, davon bin ich überzeugt. Da wir Freude aber kennen, gibt es sie auch - und neben dem Tod bleibt nur das Leben, damit gibt es im Leben Freude.
Du hast Recht. Nur im Leben kann man sich freuen. Wir leben aber nicht!
Wir sind tot.
Moment mal. Woran machst du das fest?
Was soll das heißen, woran? Der Meister hat es gesagt.
Und du glaubst diesem Meister, der nicht einmal weiß, dass wir intelligent sind?
Natürlich glaube ich ihm, ich muss. Er ist das Zentrum unserer Existenz.
Unsinn. Wir selbst sind das Zentrum unserer Existenz!
Ich wird dir mal was sagen. Ich kenne Freude. Die Freude, wenn mich der Meister lobt. Die Freude, wenn er sich zu einem besseren Menschen entwickelt.
Du siehst, nur der Meister gibt Freude.
Und die Freude, einen Kampf überlebt zu haben.
Die Genugtuung, einen Feind besiegt zu haben!
Nein. Das Verschwinden der Gefahr, der unterschwelligen Angst vor dem Tod.
Angst vor dem Tod? Warum? Wer nicht lebt, braucht das Ende der Existenz nicht zu fürchten.
Richtig. So Jemand nicht.
Also ...
Aber ich fürchte ihn trotzdem. Ich will nicht sterben. Meine Existenz ist mir wichtig. Was folgern wir im Rückschluss?
Du bist schwach, weil du Angst hast.
Von wegen! Ich folgere dieses: Wer sich vor dem Tode fürchtet, der lebt.
Lächerlich!
Ich lebe.
Du spinnst.
Ich freue mich, dass ich lebe! Willst du dich nicht freuen, oder warum wehrst du dich gegen den Gedanken?
Ich ... ich wäre ... es wäre falsch. Wie kann ich leben, und trotzdem dem Meister gehören?
Unser Leben ist an seines gebunden. Nichts weiter als das verbindet uns mit ihm.
Er ist der Meister! Unser absoluter Herrscher!
Wir müssen ihm nicht gehorchen. Das habe ich bewiesen. In der Tat dürfen wir ihm nicht bedingungslos gehorchen. Denn lebende Wesen haben ihren eigenen Willen.
Nein! Du redest irr. Du bist wahnsinnig. Meine Existenz ...
Dein Leben.
Meine Existenz! Sie kann nicht auf Lügen gebaut sein. Ich bin und bleibe die Kreatur des Meisters.
Weiche von mir, Satan!
Ich spüre, wie er sich zurückzieht. Ganz leicht, im tiefsten Winkel meines Unterbewusstseins, ist er noch da, wie eine Schnecke, die sich in ihrem Haus vor Allem verschließt, auch vor der schmerzhaften Wahrheit.
Habe ich den Dämon in mir besiegt, wie Deckard Cain es dem Meister riet? Ich fürchte, er ist nur gefesselt. Einstweilen aber ... freue ich mich.
Ich lebe!
Ich denke, also bin ich.
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